John Allen
Morgenroutine, oder: Der erste Erfolg des Tages
Neulich fragte mich jemand, ob ich mich eher als Eule oder Lerche bezeichnen würde. Ich, der ich in Sachen Tierwelt nicht übermäßig bewandert bin und auch den Kontext der Frage nicht verstand, antwortete spontan, dass Elefanten meine Lieblingstiere seien. “Nein, John, Eule oder Lerche, du musst eins von beidem sein!”. “Aha.”
Ich erbat mir weitere Details und weil demjenigen der fragt, für gewöhnlich geholfen wird, erklärte mir mein Freund, dass man als Eulen jene bezeichnete, die spät ins Bett gehen und tendenziell schlafen bis zur kommenden Abenddämmerung und als Lerchen eben jene, die früh schlafen gehen, aber morgens schon vor Sonnenaufgang top fit um die Alster joggen. “Ich glaube so gesehen bin ich eine Euche. Ich bin Nachtmensch, aber leider morgens immer viel zu früh wach, ohne um die Alster zu joggen, versteht sich, ich kenne meine Grenzen.”
Es ist tatsächlich so. Am produktivsten bin ich am späten Abend oder in der Nacht, wenn mich weniger ablenkt, wenn keine SMS ankommen, keine Emails, keine Anrufe. In den Stunden versinke ich am liebsten in meinem Sessel oder vor dem Laptop, schreibe, denke nach, arbeite, lese. Umso ärgerlicher ist es, dass ich es mir für gewöhnlich zum einen nicht leisten kann, bis in die Puppen zu schlafen und zum anderen dafür körperlich nicht gebaut zu sein scheine. Meine innere Uhr nimmt hier unbarmherzig die Form eines Racheengels an, der mich am frühen morgen mit Lanze und Speer aus dem Schlaf reißt.
Umso wichtiger, eine Morgenroutine zu haben auf die ich mich freuen kann, die mir beim langsamen Wachwerden hilft und dabei, mich seelisch und moralisch auf diese Welt vorzubereiten, der ich mich im Verlauf des Tages unfreiwillig ausgesetzt fühle. Was könnte schlimmer sein, als mit dem Weckerklingeln ins Bad zu hetzen und sofort vom Gefühl geplagt zu sein, zu spät für wasauchimmer zu sein?
Die Idee einer Morgenroutine habe ich von Jamie. Jamie ist ein wirklich guter Freund von mir - und es ist seltsam das so zu formulieren, weil wir uns so gut wie nie persönlich sehen. Jamie lebt in Halifax, Kanada. Nicht eben um die Ecke und so kommt es, dass wir uns schon seit drei Jahren überhaupt nicht mehr gesehen haben. Jamie ist Künstler. Fotograf (und was für einer!) und Schlagzeuger. Einige von euch kennen ihn vielleicht aus der Band von Ben Caplan. Wir haben uns vor fast sieben Jahren kennengelernt, als ich mit Ben zusammen auf Tour war und uns auf Anhieb blendend verstanden. Unser Gesprächsaufhänger damals war, dass wir die gleiche Kamera auf Tour dabei hatten, eine kleine Fuji, aber das soll hier nicht das Thema sein.

Meine Frau und ich haben, als wir auf Hochzeitsreise in den USA waren, Jamie besucht. Der hat damals noch in Toronto gelebt und wir wollten ohnehin einmal die Niagara Fälle anschauen. Und weil es von dort aus nur läppische 90 Minuten nach Downtown Toronto waren und er auch noch gut auf unseren Urlaub abgestimmt ein Konzert gespielt hat, haben wir uns für zwei Nächte bei ihm einquartiert. Als ich nach der ersten (viel zu kurzen) Nacht aufstehe finde ich Jamie in seinem Wohnzimmer sitzend, scheinbar vollkommen in Gedanken versunken, schwere Kopfhörer auf den Ohren, aus dem Fenster starrend, eine Tasse Kaffee in der Hand. Ich versuche mich bemerkbar zu machen, ohne ihn zu erschrecken, was mir nur einigermaßen gelingt, zu abwesend ist er. Jamie lächelt und ich frage ihn, wie lange er schon wach sei. “Ach, eins-zwei Stunden”, sagt er. “Warum? Konntest du nicht schlafen?” frage ich. “Doch”, antwortet er, “aber ich stehe bewusst immer früher auf, ich brauche es, meinen Morgen ganz langsam anzufangen. Ich koche mir Kaffee, ich höre erst einen Podcast, dann ein wenig klassische Musik und hänge einfach ein wenig meinen Gedanken nach. Manchmal schreibe ich Tagebuch oder blättere durch einen Bildband. Wenn ich morgens aufstehe und direkt los muss, dann komme ich den ganzen Tag über nicht klar.”
Früher aufstehen als notwendig? Das kam mir seltsam vor. Gleichzeitig bin ich immer leicht von Dingen zu begeistern, für die andere Menschen brennen. Erzähl mir was von Mathematik auf eine Art die klar macht, es ist dir wichtig und du findest es großartig und ich möchte (kurzfristig!) Mathematiker werden. Reformpädagogen würden wahrscheinlich sagen, ich sei leicht zu entzünden.
Jamie erklärte, dass es für ihn wichtig sei, seinen Kaffee selbst zu mahlen, nicht nur weil es einfach besser schmecke, sondern weil es eine Verbindung zum fertigen Produkt schaffe. Dass es etwas damit zu tun habe, dass der Tag für ihn mit einem Erfolg begänne. Er nannte das “sense of achievement”. Das klingt viel besser als “Erfolg”, aber mir fällt auch keine bessere Übersetzung ein. Ich setzte mich also neben Jamie aufs Sofa, bewundere ihn ein bißchen, merke wie ich mich entzünde und erzähle ihm, dass mich diese Einstellung an ein Video erinnere, dass ich einmal gesehen hätte. In dem erzählte ein General der US Army, warum es für ihn wichtig sei, morgens sein Bett zu machen. Er erklärte, ein ordentlich gemachtes Bett sei für ihn der erste Triumph des Tages und auch wenn danach alles schiefgehen würde, so könne er abends ins Schlafzimmer gehen, sein gemachtes Bett vorfinden und sich sagen, dass zumindest irgendetwas heute geklappt und er zumindest eine Sache heute erreicht habe. Jamies Augen leuchteten. “Genau! Genau so, John! Und du solltest das probieren.”

Als ich beim Frühstück meiner Frau davon erzählte war sie von allem außer dem gemachten Bett wenig angetan. Früher aufstehen um nichts zu tun? Und überhaupt, eine eigene Kaffeemühle? Das macht bloß Dreck! Normalerweise dauert es immer ein wenig, bis ich meine Frau von meinen Schnapsideen überzeugt bekomme, aber an diesem Tag, im Sommer 2019, da waren wir zu zweit. Jamie und ich - Gurus für ein besseres Leben. “Dann kauf halt eine Kaffeemühle - aber lass mich ja schlafen!” Mehr wollte ich gar nicht hören.
Dreieinhalb Jahre später.

Meine Morgenroutine, nun… ich gebe es gerne zu, sie ist geklaut. Schamlos. Ich stehe in der Regel eine Stunde früher auf als ich müsste, ich mahle mir meinen Kaffee frisch, erst diese Woche habe ich mir eine neue Handmühle gekauft. Ich koche meinen Kaffee in meiner Chemex, die mir seit drei Jahren treue Dienste leistet. Manche Banausen in meiner direkten Umgebung sagen etwas spöttisch, ich würde meinen Kaffee weder kochen, noch trinken, ich würde ihn zelebrieren. Ich sei ein Nerd und, wie ein anderer mal sagte, eine „weird coffee person“. Ich glaube ja, die sind alle nur neidisch. Oh ye of little faith!
Mit dem frisch aufgebrühten Kaffee setze ich mich an den Küchentisch, lese Zeitung und schreibe meine Gedanken in mein Tagebuch. Manchmal schneide ich Artikel aus, oder Bilder und klebe sie dazu. Am meisten freue ich mich auf den Freitag morgen. Donnerstags kommt die neue ZEIT und meine Lieblingsrubrik ist die letzte Seite. „Was mein Leben reicher macht.“ Da ist in der Regel immer ein kurzer Abschnitt dabei, der mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Ich habe gelernt, dass es manchmal egal sein kann, was der Tag so bringt. Wenn der Morgen gut ist, dann konfrontiert man das Kommende mit mehr Ruhe und Ausgeglichenheit - klappt nicht immer, aber manchmal schon und allein das ist es wert. Mein Bett bleibt weiterhin oft ungemacht, aber der Kaffee ist in jedem Fall der erste Erfolg des Tages. Auch diesen Blog habe ich übrigens erst nach dem Kaffee geschrieben - vorher geht nichts.
Habt ihr Morgenroutinen? Falls ja? Ich bin gespannt!
